Medtech-INSIDE – Teil 11: "Wearables, Apps & Co: Digitale Werkzeuge einer neuen Medizin"
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 11: "Wearables, Apps & Co: Digitale Werkzeuge einer neuen Medizin"
Das Herz schlägt schnell und unregelmäßig, der Hals wird eng, zur Atemnot kommen Angst, Zittern und kalter Schweiß am ganzen Körper – wer schon einmal eine Panikattacke hatte, der will sich dieser Situation möglichst nie wieder ausgesetzt fühlen. Und der weiß zu schätzen, dass es mittlerweile medizinisch zugelassene Apps gibt, die ihm in dieser Not helfen können, und mit denen er lernen kann, seine Panikattacken in den Griff zu bekommen. Hilfreich ist auch die verhaltenstherapeutisch basierte App für Tinnitus-Patienten, die auf Rezept erhältlich ist. Mit ihr lernt der Patient, mit seinem Tinnitus besser umzugehen. Solche Apps sind kleine digitale Helfer, die eine Therapie nicht ersetzen können, aber sie sind immer und überall dabei, und genau das macht sie für Betroffene so wertvoll.
Electronic Health und Mobile Health
Electronic Health (eHealth) und Mobile Health (mHealth) sind Megatrends im Gesundheitswesen, die durch Corona auf die Überholspur katapultiert wurden. Ob medizinisch zugelassene Apps gegen Depressionen und Angststörungen, wie sie das Berliner Unternehmen Selfapy anbietet, oder frei käufliche Apps zur Bekämpfung von Migräne, Schlafproblemen oder auch zur individuellen Vorsorge – sie werden von immer mehr Menschen genutzt. Und Deutschland ist hier mal ausnahmsweise Vorreiter, denn Deutschland ist das erste Land weltweit, in dem Digitale Gesundheitsanwendungen, sogenannte DiGAs, seit Oktober 2020 auf Rezept verschrieben werden können. Bereits jeder vierte Arzt will zukünftig DiGAs verschreiben (Ärzteblatt 6/2021).
An mHealth geht im Zuge der Digitalisierung der Medizin kein Weg mehr vorbei. Aber worin unterscheiden sich eigentlich medizinische Apps und Wearables von den frei verkäuflichen Consumer Wearables?
Consumer Wearables
Unter den (nichtmedizinischen) Consumer- oder Freizeit-Wearables wie zum Beispiel Fitnesstracker versteht man kleine Computersysteme, die am Körper getragen werden. Mittels Sensoren und Elektroden zeichnen diese Geräte Vitalwerte wie Herzfrequenz, Schritte, Geschwindigkeit und Dauer einer Aktivität auf. Der Markt für diese Art von Wearables wächst seit Jahren. Rund 1,5 Millionen Fitnesstracker werden jährlich allein in Deutschland gekauft; weltweit wird der Absatz von Wearables im Jahr 2020 auf rund 445 Millionen Stück geschätzt. Beliebt sind vor allem Smartwatches, die ihre Träger zu einer gesünderen Lebenshaltung motivieren sollen. Für die medizinische Verwendung sind diese gemessenen Daten jedoch nicht verlässlich, weil nicht präzise genug. Handelsübliche Fitness-Wearables können eine Arztkonsultation auf keinen Fall ersetzen. Und leider bieten Consumer-Wearables auch Potential für Datenmissbrauch. Laut einer Untersuchung des Verbraucherportals Marktwächter Digitale Welt der Bundesregierung erfordern alle geprüften Fitness-Apps eine Netzanbindung, und die Anbieter sammeln kräftig Daten. Das Bewusstsein, dass diese persönlichen Daten von erheblichem kommerziellem Wert sind, ist beim Verbraucher noch viel zu wenig ausgeprägt. Wünschenswert wären auch für Freizeit-Wearables und -Apps eine Datenschutzregelung und eine unabhängige Qualitätskontrolle, um den Nutzerinnen und Nutzern Sicherheit und Orientierung zu geben.
Medizinische Wearables und Apps
Im Gegensatz zu den Consumer-Angeboten unterliegen die medizinischen Apps und Wearables als Medizinprodukte in Europa den strengen regulatorischen Anforderungen der neuen Medical Device Regulation (kurz: MDR), die am 26. Mai 2021 in Kraft getreten ist.
Unter medizinischen Wearables versteht man Anwendungen, z. B. Armbänder, intelligente Pflaster, Ereignisrekorder oder Textilien, die etwa die genaue Körpertemperatur-, den Blutdruck-, Blutsauerstoff- oder den Blutzucker messen. Andere Wearables können über Aktoren Medikamente, wie beispielsweise Insulin bei Diabetes, abgeben. Die Miniaturisierung und fortschreitende Präzision bei Sensortechnologien schaffen laufend neue mögliche Anwendungsgebiete. Bei chronischen Krankheiten, wie z. B. Asthma, soll die Kontrolle von Atemparametern des Patienten gefährliche Normabweichungen signalisieren. Bei akuter Gefahr, beispielsweise bei einer nächtlichen Apnoe, könnten medizinische Wearables einen Alarm auslösen.
Wearables und Apps als Teil der Telemedizin
Medizinische Wearables und Apps sind ein essentieller Bestandteil der Telemedizin, die in Deutschland vor allem durch die Corona-Pandemie einen Schub erhalten hat. Die Telemedizin umfasst die Bereiche Diagnostik, Behandlung und Nachsorge. Zum Einsatz kommen dabei u. a. Videosprechstunde, E-Mail, Messenger, aber auch Wearables und Apps für das Monitoring von Vitalwerten. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat der Gesetzgeber den Rechtsrahmen geschaffen, um den DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen) den Weg in die allgemeine Gesundheitsversorgung freizumachen. DiGA heißt ein Medizinprodukt dann, wenn seine zentralen Funktionen auf einer digitalen Technologie beruhen. Welche DiGAs derzeit zugelassen sind, kann man auf der Website des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte nachschauen: www.diga.bfarm.de
Wie eine Online-Umfrage des Unternehmens Capterra im April 2021 ergab, haben in Deutschland 17 Prozent der befragten Patienten schon einmal eine Telemedizin-Konsultation in Anspruch genommen, drei Viertel davon während der Corona-Pandemie. Mehr als 90 Prozent der Befragten wollen Telemedizin auch in Zukunft nutzen. Das ist nachvollziehbar, auch aus Sicht der Ärzte und Krankenkassen. Denn die Telemedizin bietet zahlreiche Vorteile: weniger Arztbesuche, weniger Zeitaufwand für die Patienten, schnellere Diagnostik und Behandlung, verlässliches Monitoring sowie ein besserer Zugang zu medizinischer Versorgung auch in strukturschwachen Gebieten. Dazu kommen die einfacheren, schnelleren Fachkonsultationen zwischen Medizinern via Teleconsulting. Zusammen mit Home-Testing-Technologien und KI-basierten Decision-Support-Systemen bieten diese Innovationen eine ideale Ergänzung zur medizinischen Diagnose und Patientenversorgung jenseits des klassischen Besuchs in der Arztpraxis.
Prof. Dr. Gernot Marx, Direktor für Intensivmedizin an der Uniklinik Aachen und Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin, forderte auf dem NRW-Kongress Telemedizin Ende Juni 2021: „Es ist Zeit für die flächendeckende und sektorenübergreifende telemedizinische Versorgung in Deutschland.“ Es ist davon auszugehen, dass sich der Trend zur Telemedizin mit ihren Teildisziplinen beschleunigt fortsetzen wird.
Telemonitoring und -consulting
Medizinisch zugelassene Wearables und Apps werden für das Telemonitoring im Rahmen der Telemedizin zukünftig eine zentrale Rolle spielen. So können zum Beispiel die Messwerte von medizinischen Wearables dazu dienen, dem behandelnden Arzt Vitaldaten über einen längeren Zeitraum zur Verfügung zu stellen. Mittels KI-basierter „Decision-Support-Systeme“ kann der Arzt dann die Diagnose aufgrund der großen Datenmenge schneller und sicherer stellen. Veränderungen des Gesundheitszustandes werden schneller erkannt, mögliche und folgenschwere Fehl- oder verspätete Diagnosen könnten so weitgehend ausgeschlossen werden.
Auch das Pflegepersonal in der Klinik oder in der häuslichen Pflege könnte durch den Einsatz von intelligenten medizinischen Wearables entlastet werden, indem diese z. B. anzeigen, wann ein Patient droht, wundzuliegen und daher umgelagert werden sollte. Ein großes Marktpotential dürften auch sogenannte Active-Assisted-Living-Systeme und Dienstleistungen (kurz: ALL) aufgrund der demografischen Entwicklung haben. Diese Tools könnten alten und pflegebedürftigen Menschen dabei helfen, möglichst lange ein weitgehend selbstbestimmtes Leben in den eigenen Wänden zu führen.
Chancen von eHealth nutzen
Derzeit führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte auf seiner Website 19 Apps mit DiGA-Zulassung auf. Die Hürden für medizinische Wearables und Apps sind hoch, die europäische MDR stellt eine zeit- und kostenintensive Herausforderung dar. Weil die Entwicklung und die Zertifizierungsverfahren teuer und aufwendig sind, wählen manche Hersteller deshalb den vermeintlich leichteren Weg der Zulassung als Haushaltsgerät, oder sie nehmen umsatzschwächere Produkte ganz vom Markt.
Etablierte Healthcare-Unternehmen sollten jedoch angesichts des Megatrends eHealth prüfen, inwieweit sich ihre Medtech-Produkte um eine sinnvolle digitale und mobile Komponente ergänzen lassen, so dass sie in die Telemedizin-Landschaft integriert werden können. Realistische Marktchancen, die sich hier bieten, sollten genutzt werden, bevor sie der Wettbewerb ergreift. Dabei gilt: Wer in den Markt für Telemedizin und mHealth einsteigen möchte, sollte sich rechtzeitig mit spezifischem Know-how und ausreichend Eigenkapital verstärken.
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: "Medtech im Umbruch – die Aufgaben" | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: "US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren" | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: "Zulassungsverfahren in China" | erschienen am 7. Januar 2021
TEIL 4: "Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: not amusing" | erschienen am 4. Februar 2021
TEIL 5: "Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance" | erschienen am 4. März 2021
TEIL 6: "Impact Investing: gute Rendite und Gutes tun!" | erschienen am 1. April 2021
TEIL 7: "Kleines Virus, großes Folgen" | erschienen am 6. Mai 2021
TEIL 8: "Digitalisierungstrends im Healthcare-Bereich" | erschienen am 3. Juni 2021
TEIL 9: "KI in der Medizin: Assistent, nicht Konkurrent" | erschienen am 1. Juli 2021
TEIL 10: "Unabdingbar: Sicherheit in einer digitalisierten Medizin" | erschienen am 12. August 2021