Medtech-INSIDE – Teil 12: Daten nützen, Daten schützen
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 12: "Daten nützen, Daten schützen: Medizin im 21. Jahrhundert"
Kennen Sie die Tangier-Krankheit? Das ist eine Erbkrankheit, bei der ein Gendefekt eine Störung des Fettstoffwechsels auslöst. Die Folge ist eine vermehrte Cholesterinspeicherung in den Körperzellen. Die Tangier-Krankheit wurde bisher weltweit bei nur etwa 100 Patienten diagnostiziert und gehört damit zu den Orphan Diseases, den seltenen Erkrankungen. Dazu zählen Krankheiten, von denen nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Vier Millionen Menschen, die meisten davon Kinder, leiden in Deutschland an einer seltenen Krankheit, in Europa sind es rund 30 Millionen Patientinnen und Patienten. Viele erhalten erst nach einer ärztlichen Odyssee eine korrekte Diagnose und Therapie, weil es zu wenig Information und geteiltes Wissen über die Krankheiten gibt. Und das liegt am mangelndem Datenaustausch. Das könnte sich nun ändern.
Datenerhebung ist nichts Neues
Seit Jahrzehnten werden in Praxen und Krankenhäusern jeden Tag riesige Mengen an medizinischen Daten erhoben. Bisher diente dies jedoch vor allem der individuellen Diagnose. Anschließend verschwanden die Daten im Archiv. Ein immenser Datenschatz, der ungenutzt in den medizinischen Archiven lagert. Die neuen Technologien der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz (KI) machen es nun möglich, Daten sichtbar, verknüpfbar und damit vielseitig nutzbar zu machen. Voraussetzung dafür ist die Interoperabilität zwischen den unterschiedlichen Systemen.
Big Data
Unter dem Schlüsselbegriff Big Data versteht man den Umgang mit riesigen Datenmengen, um Daten zu vergleichen, Muster zu erkennen und daraus neues medizinisches Verständnis zu schaffen. Je größer die Datenbank und je hochwertiger die Daten qualitativ sind, desto fundierter auch die Ergebnisse und damit die Antworten auf Fragen. Warum beispielsweise reagieren Menschen ganz unterschiedlich auf dieselbe Therapie? Erst der Vergleich von vielen Patientendaten zu einer Krankheit ermöglicht es Medizinern, Zusammenhänge von Parametern und Auffälligkeiten zu erkennen. So kann die Arbeit mit Big Data auch helfen, die Behandlungsmethode zu finden, die den größten Erfolg bei einer bestimmten Krebsart verspricht. Manchmal kommt es dabei auch zu Zufallsfunden wie beispielsweise beim Wirkstoff Desipramin, ein Wirkstoff in Antidepressiva, der bei einer Big-Data-Analyse als mögliches Medikament bei bestimmten Lungenkrebsarten identifiziert wurde.
Systemische Datennutzung
Weltweit setzen Mediziner daher große Hoffnung in die systemische Nutzung von anonymisierten Gesundheitsdaten für die medizinische Diagnose, Therapie, Prävention und Forschung. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse werden auf diese Weise schneller verbreitet, Risiken einer Behandlung schneller erkannt und minimiert. Insbesondere Krebspatienten profitieren bereits von der systemischen Datennutzung. Denn Krebs ist auch auf der molekularbiologischen Ebene eine extrem heterogene Erkrankung. Die Infusion einer Chemotherapie wird schon heute personalisiert hergestellt – exakt bezogen auf Art, Stadium und molekulargenetische Veränderung des Tumors, aber auch auf Alter, Körpergewicht sowie viele andere individuelle Merkmale des Patienten. Diese Form der personalisierten Medizin ist ohne systemische Datennutzung nicht denkbar. Aber auch für die Frühdiagnostik und bei seltenen Krankheiten ist die systemische Datennutzung ein Meilenstein. Die Gesundheitsversorgung könnte also auf eine neue Stufe gestellt werden – und das bei deutlich gesteigerter Kosteneffizienz, was im Hinblick auf die alternde Gesellschaft ebenfalls wichtig ist.
Hindernisse
Allerdings stehen einer unkomplizierten systemischen Nutzung von Gesundheitsdaten noch Hindernisse im Weg. Da ist zum einen der nach wie vor unbefriedigende Stand der Digitalisierung, den uns die Corona-Pandemie eindrücklich vor Augen geführt hat. Mit Staunen sehen wir, wie viele Daten etwa in Großbritannien im Zuge von COVID-19-Erkrankungen erhoben und für die Forschung und Pandemiebekämpfung genutzt werden, während in deutschen Gesundheitsämtern zum Teil noch die Faxgeräte piepsen. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass wir in Sachen Digitalisierung, KI und Interoperabilität in Zukunft große Fortschritte sehen werden: im Gesundheitswesen und in der Healthcare-Industrie.
Datenschutz versus Datennutzung
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sieht die Vorteile der Datennutzung und ist bereit, Patientendaten unter klar definierten Bedingungen für die medizinische Forschung zu spenden. Leider wird dennoch in Deutschland der Datenschutz häufig zum Gegenspieler der Datennutzung hochstilisiert. Professor Dr. Christof von Kalle, Gründungsdirektor des klinischen Studienzentrums des Berlin Institute of Health (BIH) und der Berliner Charité, fordert deshalb nicht nur eine „Ethik des Datenschutzes“ sondern auch eine „Ethik der Datennutzung“ und zwar sowohl im Interesse des einzelnen Patienten als auch im kollektiven Interesse. „Daten teilen heißt besser heilen“, so Professor Kalle, der auch Mitglied des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung ist, im Fachmagazin E-Health-Com.
Länderübergreifende Lösungen
Wünschenswert auf dem Weg zu einem datenbasierten, lernenden Gesundheitssystem wäre eine europäische Lösung. Dies betrifft zum einen die Datenschutzregularien, aber auch die technischen Voraussetzungen für eine grenzüberschreitende Nutzung von Gesundheitsdaten. Es ist erfreulich, dass sich die EU mit dem „European Health Data Space“ ein ambitioniertes Ziel im Hinblick auf Datennutzung und -standards gesetzt hat. Derzeit sieht es, was die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten betrifft, noch recht uneinheitlich aus. So haben Länder wie Dänemark, Estland, England oder Portugal weitreichende gesetzliche Möglichkeiten für die Zweitverwertung von Gesundheitsdaten in Versorgung, Forschung und Public Health. Dabei setzen manche Länder auf eine Patienteneinwilligung zur Nutzung ihrer Daten, andere informieren ihre Bürger nur darüber, zu welchen Zwecken ihre Daten genutzt werden. Es gibt aber auch Länder wie Belgien, Frankreich, Italien oder die Niederlande, die eine zusätzliche Nutzung der ePA-Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger stark einschränken. In Deutschland ist eine weitere Datennutzung aus der ePA mit dem neuen Patienten-Datenschutz-Gesetz für die Versorgungsforschung möglich. Ganz anders sieht es in den USA aus, wo der Datenschutz grundsätzlich eine geringere Bedeutung hat.
Vorbild Finnland
Um dem Ziel „Daten teilen, besser heilen“ schnell näherzukommen, hilft ein Blick nach Finnland, wo der systemischen Nutzung von Gesundheitsdaten ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, ohne dass der Datenschutz der Patient:innen untergraben wird. Der sogenannte „Finnische Datenraum“ für Gesundheitsdaten, für dessen Schaffung die Behörde Findata aufgebaut wurde, ermöglicht Mediziner:innen einen Zugang zu Gesundheits- und Sozialdaten. Findata stellt Daten zur Forschung, Planung oder Statistik zur Verfügung. Zentrales Element ist dabei eine Bürger-ID, die alle Bürgerinnen und Bürger haben. Wer die Daten nutzen will, stellt einen Antrag, der von Findata geprüft wird. Wird dem Antrag stattgegeben, können die anonymisierten oder pseudonymisierten Daten ausgewertet werden. Besonderheit: Die Daten können nicht heruntergeladen werden. Findata agiert praktisch wie ein Datentreuhänder, was wiederum das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger stärkt. (Quelle: Ärztezeitung, 29.6.2021). Vielleicht sollte man in Deutschland und anderen Ländern einen Blick über den eigenen Tellerrand wagen und praktikablen sowie erfolgreichen Modellen aus anderen Regionen mehr Aufmerksamkeit schenken.
Ausblick
Die systemische Nutzung von Gesundheitsdaten eröffnet den Weg zu einer datenbasierten, neuen Medizin. Experten weltweit versprechen sich davon eine bessere Gesundheitsvorsorge, schnellere und genauere Diagnosemöglichkeiten, personalisierte Therapieformen und ein effizienteres Gesundheitssystem. Was den Datenschutz unserer Gesundheitsdaten angeht, sollten wir diesen nicht gegen die Nutzung der Daten ausspielen. Denn am Ende profitieren wir alle davon, wenn es uns gelingt, diesen Wissensschatz zu heben, der in Abertausenden von Petabytes schlummert.
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: "Medtech im Umbruch – die Aufgaben" | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: "US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren" | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: "Zulassungsverfahren in China" | erschienen am 7. Januar 2021
TEIL 4: "Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: not amusing" | erschienen am 4. Februar 2021
TEIL 5: "Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance" | erschienen am 4. März 2021
TEIL 6: "Impact Investing: gute Rendite und Gutes tun!" | erschienen am 1. April 2021
TEIL 7: "Kleines Virus, großes Folgen" | erschienen am 6. Mai 2021
TEIL 8: "Digitalisierungstrends im Healthcare-Bereich" | erschienen am 3. Juni 2021
TEIL 9: "KI in der Medizin: Assistent, nicht Konkurrent" | erschienen am 1. Juli 2021
TEIL 10: "Unabdingbar: Sicherheit in einer digitalisierten Medizin" | erschienen am 12. August 2021
Teil 11: "Wearables, Apps & Co: Digitale Werkzeuge einer neuen Medizin" | erschienen am 2. September 2021