Medtech-INSIDE – Teil 4: "Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: Not amusing"
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 4: "Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit"
Zweimal, 1961 und 1967, hatte der französische Präsident Charles de Gaulle mit seinem Veto den Briten die Tür nach Europa vor der Nase zugeschlagen. Am 1. Januar 1973 war es dann soweit: das Vereinigte Königreich trat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) bei. Jetzt, nach 47 Jahren endete am 31. Dezember 2020 diese Mitgliedschaft mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Nachfolgeorganisation der EWG. Nach zähem Ringen mit Haken und Ösen ist ein Scheidungsvertrag mit mehr als 1.000 Seiten Umfang rausgekommen.
Brexit done, but ...
„Brexit is done“, hat der britische Premier Johnson vollmundig verkündet, und formell stimmt das, der Brexit ist seit dem 1. Januar 2021 vollzogen. Was dieser Brexit für die Menschen und die Wirtschaft in UK jedoch bedeutet, haben vermutlich viele der Brexit-Hardliner schlicht ausgeblendet. Fakt ist: es wird nicht einfacher werden. Im Gegenteil, wer Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich machen möchte, sollte sich auf Hindernisse einstellen. Dies gilt auch für die deutsche, überwiegend mittelständisch geprägte Healthcare- und Medtech-Industrie.
Rund 93 Prozent aller Medtech-Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland haben weniger als 250 Mitarbeiter*innen, so der Fachverband BVMed. Die Exportquote liegt bei rund 65 Prozent. Für die deutsche Medizintechnik ist das Vereinigte Königreich der sechstgrößte Exportmarkt mit einem Volumen von gut 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2019 (Quelle: Spectaris).
Angesichts dieser Zahlen wird schnell klar, dass nur ein No-Deal-Brexit noch unangenehmer geworden wäre als die Last-Minute-Vereinbarung, die auf den ersten Blick aussieht wie ein „weicher Austritt“. Aber stimmt das? Wie bei vielen Dingen steckt der Teufel auch beim Brexit-Abkommen im Detail. Eins ist jedoch offensichtlich: die mittel- bis langfristigen Folgen des Brexits für die Medizintechnik werden die mittelständischen Unternehmen am meisten zu spüren bekommen. Und das ist ja beileibe nicht die einzige Herausforderung für die Healthcare-Branche.
Die neuen europäischen Regulierungsvorgaben (MDR/IVDR: Mai 2021), die Corona-Pandemie und schließlich der Brexit sind ein ziemlich schweres Bündel für den Mittelstand. Hinzu kommt der sich stark beschleunigende Digitalisierungsprozess auf nahezu allen Ebenen. Die Corona-Pandemie hat diese Digitalisierungsdynamik zusätzlich angefacht. Das ist für kleinere und mittlere Medtech-Betriebe inhaltlich wie auch finanziell schwer zu stemmen.
Brexit I: die guten Nachrichten
Die erste gute Neuigkeit ist: es hätte deutlich schlimmer kommen können. Immerhin konnte der „harte Brexit“ in letzter Minute noch verhindert werden. Für Unternehmen, die nach UK exportieren, leitet sich daraus die zweite gute Nachricht ab: Quoten und Zölle auf Medtech-Produkte sind erst einmal vom Tisch – zumindest für den Moment. Das betrifft natürlich die deutschen Medizintechnik-Unternehmen, denn immerhin 16 % der Medtech-Importe des Vereinigten Königreichs kommen aus Deutschland, 70% sind es aus der gesamten EU.
Damit ist der britische Markt für deutsche Medtech-Unternehmen ein wichtiger Export-Markt, der durch das Handelsabkommen nun weiterhin gut zugänglich sein sollte. Analysten gehen außerdem davon aus, dass der britische Medtech-Markt in den kommenden Jahren zwischen 3,5% - 4,5% jährlich wachsen wird, da es einen großen Nachholbedarf in verschiedenen Bereichen gibt. Das britische Gesundheitssystem ist dringend modernisierungsbedürftig. Investitionen in den nationalen Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) wurden im Jahr 2020 mit konkreten Investitionsprogrammen von Seiten der Regierung angestoßen. Zahlreiche neue Krankenhäuser sollen gebaut, ältere Kliniken modernisiert werden. Außerdem soll das E-Health-System in Zukunft weiter gestärkt und die Diagnostik deutlich verbessert werden. So weit, so gut.
Brexit II: die weniger guten Nachrichten
Wo Licht ist, gibt es bekanntlich auch Schatten. Und so ist es auch beim Brexit. Auf die Medtech-Branche kommen zusätzliche regulatorische und bürokratische Hürden zu, die nicht unterschätzt werden sollten:
- Die CE-Kennzeichnung wird zwar noch bis 30. Juni 2023 anerkannt, aber danach benötigt man eine eigene UK-Zulassung für alle Produkte, die sogenannte UKCA-Kennzeichnung (UK Conformity Assessed), die ab dem 1. Juli 2023 Pflicht ist.
- Ab 1. Januar 2021 ist eine Registrierung aller Medizinprodukte bei der zuständigen Behörde Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) Pflicht, wobei Firmen mit Klasse III Produkten als erstes aktiv werden müssen.
- Hersteller ohne Niederlassung in Großbritannien sind verpflichtet, eine „Verantwortliche Person“ zu benennen, die einige verbindliche Pflichten hat, unter anderem die Registrierung bei der MHRA unter Wahrung aller Fristen und Vorgaben.
Brexit III: Folgen für den Medtech-Mittelstand in Deutschland
Was bedeuten diese Änderungen in Großbritannien nun für die vielen mittelständischen Medtech-Unternehmen in Deutschland, die ihre innovativen Produkte natürlich auch auf der anderen Seite des Ärmelkanals verkaufen möchten? In einem Satz: mehr Aufwand und Kosten durch wachsende Bürokratie und Kontrollen. Das drückt auf die Margen, was gerade für kleinere und mittlere Firmen besonders kritisch ist. Nichtsdestotrotz muss sich die deutsche Medtech- und Healthcare-Branche diesen Herausforderungen stellen, schließlich ist der britische Medizintechnikmarkt der drittgrößte in Europa und der sechsgrößte in der Welt.
Weitere große Aufgaben für die deutschen Unternehmen sind die steigenden Regulationsanforderungen in der EU (MDR/IVDR) ab Mai 2021, der Einfluss der Corona-Pandemie auf das Geschäft, die Beschleunigung der Digitalisierung im gesamten Healthcare-Bereich und, last but not least, ein hoher Investitionsbedarf für die Neu- und Weiterentwicklung von Medtech- und Healthcare-Produkten. Vor allem Letzteres darf nicht unterschätzt werden, zählt doch die Medtech-Industrie zu den innovativsten Branchen überhaupt. Ein Drittel des Umsatzes erzielen die deutschen Hersteller mit Produkten, die jünger sind als drei Jahre. Dieses Niveau gilt es zu halten.
In Summe bedeuten diese Herausforderungen, angefangen beim Brexit, eine große finanzielle und zeitliche Belastung. Hier, so zeigt die Erfahrung, stoßen kleinere und mittlere Unternehmen schnell an ihre Grenzen. Vorausschauende Unternehmer sollten daher stets ihre Eigenkapitalquote im Blick haben und diese gegebenenfalls rechtzeitig stärken.
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: Medtech im Umbruch – die Aufgaben | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: Zulassungsverfahren in China | erschienen am 7. Januar 2021
Teil 5: Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance | erschienen am 4. März 2021