Medtech-INSIDE – Teil 5: "Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance"
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 5: "Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance"
Es könne doch nicht sein, sagte der Tübinger Landrat Joachim Walter, dass die Mitarbeiter im Gesundheitsamt bei der Nachverfolgung und Meldung der Corona-Fallzahlen mit einem Fax von Büro zu Büro liefen. Im Oktober 2020 war das, und ich fürchte, es hat sich so viel nicht geändert seitdem. Von 375 Gesundheitsämtern setzten Ende Januar 2021 gerade mal 180 das digitale Nachverfolgungssystem SORMAS ein, das entspricht 48 Prozent – Ziel waren 90 Prozent. Dabei wurde die Software bereits 2014 entwickelt, um Epidemien schneller und gezielter bekämpfen zu können. Geht so Digitalisierung in Deutschland?
Ein digitales Wirtschaftswunder
Das Beispiel zeigt symptomatisch, dass wir dabei sind, die Digitalisierung zu verbummeln – mit enormen Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft! Dabei genießt das deutsche Gesundheitssystem ebenso wie die deutsche Medizintechnik- und Healthcare-Industrie weltweit einen exzellenten Ruf – noch. Damit die bis dato extrem innovative Branche den Anschluss nicht verliert, braucht es ein digitales Wirtschaftswunder. Denn sonst kann es passieren, dass auch in der Medizintechnik die Tech-Giganten aus den USA und China unsere mittelständisch geprägte Medtech-Industrie überrollen.
Die Corona-Pandemie hat den digitalen Nachholbedarf gnadenlos offengelegt. Im besten Fall führt dies zu einer digitalen Turbozündung: im Bildungs- und Gesundheitswesen und in der Medtech-Industrie. Diese Welle gilt es jetzt zu reiten! Und dazu braucht es gerade in der mittelständisch geprägten Medtech-Branche Mut, Know-how und Kapital. Denn die Digitalisierung muss, soll sie erfolgreich sein, nach und nach alle Bereiche und Prozesse eines Unternehmens umfassen: Forschung und Entwicklung, Logistik, Produktion, Marketing und Vertrieb, Kundenservice und nicht zuletzt den Bereich Zulassung und Regulation. Hinzu kommen softwaretechnische Aufrüstung und Vernetzung der Produkte, mit denen das Unternehmen sein Geld verdient. Als Stichworte seien genannt: plattformübergreifende Vernetzung mit Kliniken oder Praxen, Integration von KI zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken, Tele-Monitoring, Tele-Consulting und Datenmanagement. Ich gehe davon aus, dass es in absehbarer Zukunft kaum noch technische Healthcare-Produkte und -Dienstleistungen ohne digitale Komponenten geben wird. Die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der die sogenannten Wearables (Smartwatches mit Gesundheitsfunktion) sich verbreiten, ist ein Hinweis darauf, welche Dynamik auch bei Medizintechnikprodukten zu erwarten ist. Und warum sollte ein Blutdruckmessgerät die Daten des Hochdruck-Patienten nicht direkt in die digitale Patientenakte beim Kardiologen einspeisen – Datensicherheit vorausgesetzt?
Kapazität, Know-how, Kapital
Innovationstreiber der deutschen Medizintechnik und damit Garant für deren nachhaltigen Exporterfolg sind die kleinen und mittleren Unternehmen. Von knapp 13.000 Healthcare-Herstellern haben gerade mal rund 100 Unternehmen mehr als 250 Mitarbeiter, 1.200 Firmen haben mehr als 20 Mitarbeiter und 11300 Hersteller haben unter 20 Mitarbeiter. Diese KMUs legen ihre ganze Kraft in die Entwicklung hochinnovativer Produkte; für sie stellt die Digitalisierung eine gewaltige Aufgabe dar: personell und finanziell. Denn es geht nicht darum, alte Prozesse einfach ins Digitale zu übertragen, man muss vielmehr die gesamte Wertschöpfungskette daraufhin durchforsten, wie man sie durch Digitalisierung besser machen könnte. Aber neben Tagesgeschäft und bürokratischem Aufwand durch regulatorische Vorgaben (z.B. MDR) kommt der Digitalisierungsprozess häufig zu kurz.
Eine Studie des Fachverbands Spectaris und Roland Berger aus dem Jahr 2018 hat gezeigt, dass zwar 36 Prozent der Medtech-Unternehmen eine Digitalisierungsstrategie haben, jedoch drei Viertel der befragten Unternehmen weniger als 2,5 Prozent ihres Umsatzes in Digitalisierungsprojekte investiert (im Vergleich zu 9 Prozent in Regulatorik). Die Mehrzahl wünscht sich mehr Entlastung und finanzielle wie tatkräftige Unterstützung von Externen, auch der Politik. Denn klar ist: Digitalisierung braucht leistungsfähige Netze. Wo gut ausgebaute Netze existieren, steigt die Produktivität.
Um ein digitales Wirtschaftswunder zu entfachen, muss die deutsche Medizintechnik eine Art Digitaltherapie in die Wege leiten. Was ist zu tun? 1. Analyse der Wertschöpfungskette, 2. Festlegung der Ziele der Digitalisierung, 3. Planung des Digitalisierungsprozesses, 4. Fördermöglichkeiten prüfen, 5. Eigenkapitalquote für anstehende Investitionen mit erfahrenem Brancheninvestor stärken, 6. Knowhow aufbauen: intern wie extern, 7. Kooperationen und Netzwerke knüpfen und stärken.
Fazit: An der Digitalisierung führt kein Weg vorbei. Die Geschwindigkeit wird eher noch zunehmen. Wer auch in Zukunft international wettbewerbsfähig sein möchte, muss jetzt handeln und dabei in Kauf nehmen, dass auch bei dem Digitalisierungsprozess nicht alles auf Anhieb perfekt laufen kann. Mutige und weitsichtige Unternehmer wagen es, Dinge auszuprobieren und nehmen dabei auch Fehler in Kauf. In den USA ist diese Haltung normal, während bei uns häufig eine übertriebene Vorsicht dominiert und gar nicht oder nur sehr zögerlich gehandelt wird. Diese Haltung kostet Zeit und Geld. Eine pragmatische Herangehensweise scheint mir eher eine gute Grundhaltung in Bezug auf die anstehenden Aufgaben der Digitalisierung der Healthcare-Branche zu sein!
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: Medtech im Umbruch – die Aufgaben | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: Zulassungsverfahren in China | erschienen am 7. Januar 2021
TEIL 4: Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: not amusing | erschienen am 4. Februar 2021