Medtech-INSIDE – Teil 7: "Kleines Virus, große Folgen"
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 7: "Kleines Virus, große Folgen"
Ende 2019 hat sich ein Virus, das gerade mal zwischen 0,00006 und 0,00014 mm groß ist, auf den Weg rund um den Erdball gemacht und uns gezeigt, wie verletzlich Menschen, Gesellschaften und Wirtschaftssysteme auch im 21. Jahrhundert noch sind. Mehr als 150 Millionen Menschen haben sich bis jetzt mit dem Coronavirus infiziert, und trotz Impfstoff wächst die Zahl der täglich Neuinfizierten noch immer, teilweise rasant. Mehr als 3,1 Millionen Opfer hat COVID-19 laut Johns-Hopkins-Universität bis zum 30.4.2021 gefordert. Auch diese Zahl wird weiter wachsen. Noch immer ist nicht vollständig geklärt, von welchem tierischen Zwischenwirt das Virus auf den Patienten 0 übergesprungen ist.
Folgen des Krisenmanagements für die Wirtschaft
Das Coronavirus hat die Weltwirtschaft in eine schwere Krise gestürzt, die schwerste seit dem Zweiten Weltkrieg, sagen viele Wirtschaftswissenschaftler. Die weltweiten Bekämpfungsstrategien sind zudem nicht koordiniert und deshalb ganz unterschiedlich. In Ländern, die früh eine No-Covid-Strategie verfolgt haben, zieht die Wirtschaft wieder stark an. Die meisten europäischen Staaten verfolgen hingegen „eine Art Mittelinzidenz-Strategie“ (Clemens Fuest vom ifo-Institut), die sie im teuren und mürbe machenden Dauerlockdown hält. Nicht zuletzt durch dieses unabgestimmte und teilweise schlechte Krisenmanagement betreffen die Pandemiefolgen jeden gesellschaftlichen Bereich – darunter auch die Medtech- und Healthcare-Branche.
Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat errechnet, dass allein der Lockdown im 1. Quartal 2021 die deutsche Wirtschaft 50 Milliarden Euro kosten wird. Experten gehen von einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 4,9 Prozent im Jahr 2020 in Deutschland aus. Für die Medtech-/Healthcare-Branche stellt sich die Lage differenzierter dar. So haben im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 Medtech-Unternehmen zum Teil Umsatzrückgänge zwischen 50 und 80 Prozent verzeichnen müssen. Betroffen sind hier vor allem Unternehmen, die Produkte herstellen, die in keinem Zusammenhang mit der Behandlung oder Prävention von COVID-19-Erkrankungen stehen. Insgesamt melden die Medtech-Unternehmen, die im BVMed organisiert sind, für 2020 einen pandemiebedingten Umsatzrückgang von rund 5 Prozent im Durchschnitt.
Besser sieht die Lage bei Unternehmen aus, deren Produkte oder Dienstleistungen direkt oder indirekt mit der Diagnose, Behandlung oder Prävention (Impfstoffherstellung) von COVID-19 zu tun haben. Die Hersteller von Beatmungssystemen, Corona-Tests, Impfstoffen oder Schutzkleidung können über mangelnde Aufträge und Aufmerksamkeit nicht klagen. Diese Firmen haben ebenso wie deren Zulieferer eher das Problem, den Ausbau der Produktionskapazitäten voranzutreiben und die Produktion angesichts beeinträchtigter Lieferketten sicherzustellen.
Spürbare Veränderungen für Patienten
Auch für Patienten mit anderen Erkrankungen sind die Folgen von Corona spürbar. So haben Kliniken seit Beginn der Pandemie ihre Leistungen im Bereich elektive Eingriffe deutlich zurückgefahren. Allein im ersten Halbjahr 2020 wurden OPs um 41 Prozent reduziert, so der Verband Deutscher Chirurgen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg beklagt deutliche Einschränkungen bei der Diagnose und Versorgung von Krebspatienten. Englische Wissenschaftler sehen gar in der Corona-Pandemie die größte Bedrohung für die Krebsforschung seit Jahrzehnten.
Im Bereich der psychischen Erkrankungen geben vor allem die zunehmenden Depressionen, gerade auch bei Kindern und Jugendlichen, Anlass zur Sorge. Auch Angststörungen, die häufigste psychische Störung überhaupt, haben dramatisch zugenommen, während gleichzeitig viele Therapeuten aus Infektionsschutzgründen ihr Angebot reduziert haben. Diese Versorgungslücke schließen zunehmend Start-ups, die therapeutische Hilfe und Prävention via klinisch validierter und zugelassener Online-Therapie anbieten und als digitale Gesundheitsanwendung auch auf Rezept verschreibbar sind.
Dieses Virus hat gnadenlos offengelegt, dass es in etlichen Bereichen unseres Gesundheitssystems nicht zum Besten bestellt ist. Zu den zentralen Baustellen zählt ohne Frage die Digitalisierung. Das sehen auch Ärzte so, wie etwa der Internist und Gastroenterologe Dr. Berndt Birkner am 14.4.2021 in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung schreibt: „Der überfällige Digitalisierungsschub in der Medizin wird verhindert durch teils unangemessene Datenschutzrichtlinien, durch Unwissenheit (…) und durch die einseitige Kosten- und Risikobelastung bei den Ärzten.“
Lieferketten auch langfristig absichern
Fazit: Die Corona-Pandemie, deren Ende wegen neuer Mutanten noch nicht absehbar ist, schüttelt auch die stark mittelständisch geprägte Medtech-/Healthcare-Branche kräftig durch. Betroffen hiervon sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Manche davon sind existenziell bedroht. Trotzdem sind die Aussichten für diese extrem innovative Branche insgesamt sehr gut. Denn die Regierungen haben die zentrale Bedeutung eines gut funktionierenden Gesundheitssystems und einer starken heimischen Medtech-/Healthcare-Industrie erkannt. Ebenso wurde allen Entscheidungsträgern vor Augen geführt, wie wichtig die innovationsstarken KMUs sind, ohne deren neue technische Lösungen (z.B. Diagnostiktests oder Vakzine) die Pandemiebewältigung sehr viel schwieriger wäre.
Hochwertige Medizin- und Healthcare-Produkte, Impfstoffe und Pharmazeutika sind für die umfassende Gesundheitsversorgung unentbehrlich! Hier wird es zukünftig darauf ankommen, komplexe Lieferketten und Produktionsnetzwerke auch in Krisensituationen länderübergreifend aufrechtzuerhalten. Wo es sich rechnet, wird man wieder mehr Produktion auf dem heimischen Markt ansiedeln – auch mit staatlicher Förderung und hoffentlich unterstützt durch den Abbau hinderlicher Bürokratie.
Wie können KMU aus der Krise heraus durchstarten?
Mittelständische Medtech-Unternehmen, die sich den Herausforderungen Digitalisierung, MDR, Innovation und Wachstum erfolgreich stellen wollen, sollten überprüfen, ob ihre Liquiditäts- und Eigenkapitaldecke ausreicht, damit sie aus der Krise heraus durchstarten können. Hier kann es sinnvoll sein, mit der Hausbank zu sprechen oder gleich einen branchenerfahrenen Investor ins Boot zu holen.
Den Entscheidungsträgern in der Politik sollte spätestens jetzt klar sein, dass eine starke Medtech-Industrie gute Rahmenbedingungen braucht – in Deutschland, wie in Europa. Warme Worte und symbolischer Applaus werden da nicht ausreichen. Reglementierung und Bürokratisierung sowie politische Mutlosigkeit sind Gift für eine Branche, die seit Jahrzehnten zu den innovativsten Industrien der Welt zählt und die bereit ist, ihren Beitrag zu einem starken, leistungsfähigen Gesundheitssystem zum Wohl aller Bürgerinnen und Bürger zu leisten.
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: Medtech im Umbruch – die Aufgaben | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: Zulassungsverfahren in China | erschienen am 7. Januar 2021
TEIL 4: Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: not amusing | erschienen am 4. Februar 2021
TEIL 5: Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance | erschienen am 4. März 2021
TEILl 6: "Impact Investing: gute Rendite und Gutes tun!" | erschienen am 1. April 2021