Medtech-INSIDE – Teil 8: "Digitalisierungstrends im Healthcare-Bereich"
Medtech-INSIDE ist die Finanzkolumne von medtech zwo. Sie erscheint einmal im Monat online und in unserem Heft zweimal im Jahr. Unser Autor ist Dr. André Zimmermann, Partner beim Tübinger Brancheninvestor SHS und als Business-Development-Experte weltweit im Medtech-Sektor vernetzt.
TEIL 8: "Digitalisierungtrends im Healthcare-Bereich"
Corona hat gezeigt, dass „die Hightech-Nation Deutschland mit Blick auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens wie ein Entwicklungsland wirkt“ – so der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Ferdinand Gerlach. Dabei ist die Digitalisierung neben der wachsenden und zunehmend älter werdenden Weltbevölkerung einer der drei Megatrends, die die Entwicklung der Healthcare-Industrie in den nächsten Jahren bestimmen werden (Landesbank Baden-Württemberg: Branchenreport Medtech 2021). Ich gehe davon aus, dass unsere innovative deutsche Medtech-Industrie diesen Megatrend längst erkannt hat und entsprechend handelt. Die Ergebnisse der Herbstumfrage des Bundesverbands Medizintechnologie e.V. (BVMed) deuten jedenfalls darauf hin. Gefragt nach den wichtigsten digitalen Trends und Technologien im Healthcare-Sektor nennen 44 Prozent der deutschen Medtech-Unternehmen Business-Intelligence und Datenanalyse, gefolgt von medizinischen Apps (DiGA) (38 Prozent), Big Data (31 Prozent) und Künstliche Intelligenz (25 Prozent). Will man die verschiedenen Digitalisierungstrends im Healthcare-Sektor systematisieren, bietet sich eine Analyse anhand der Patientenerfahrung, der sogenannten „Patient Journey“, an.
Mobile Health (mHealth): daheim und dezentral
Da ist als erstes der große Bereich Monitoring, Telemedizin und Wearables zu nennen. Immer mehr Menschen überwachen ihre Gesundheitsdaten (Blutdruck, Herzfrequenz, Temperatur usw.) mit mobilen Geräten wie Wearables und Apps auf dem Smartphone. Erst neulich erzählte mir ein Bekannter, dass er mit der App des Tumorzentrums Heidelberg und der Kamera seines Handys eine Hautveränderung schnell und problemlos abgeklärt habe. Anderes Beispiel: auf dem Gebiet der Überwachung von Epilepsie-Patienten bietet das finnische Unternehmen Neuro Event Labs ein KI-basiertes Diagnostik-System an, das in der Klinik, aber auch beim Patienten zuhause eingesetzt werden kann. Auch auf der therapeutischen Seite, wie z. B. bei Depressionen, bieten erfolgreiche Technologie-Firmen wie das Berliner Unternehmen Selfapy in klinischen Studien erprobte und zugelassene Lösungen als App für Patienten an, mit der sie zuhause arbeiten können. Auf dem Gebiet der Telemedizin hat im Zuge der Corona-Pandemie vor allem die Videosprechstunde einen gewaltigen Schub erfahren: 17 Prozent der Praxisärzte bieten laut Branchenverband bitkom mittlerweile Videosprechstunden an, vor Corona waren es 6 Prozent.
Electronic Health (eHealth) in der Arztpraxis
Die digitale Transformation hat längst auch die Arztpraxen erreicht, auch wenn viele niedergelassene Ärzte noch treu zu ihrem Faxgerät stehen. Die Smart Praxis ist auf dem Vormarsch und mit ihr die elektronische Patientenakte (ePa), Gesundheits-Apps auf Rezept, das eRezept, die digitale Terminvereinbarung und Überweisung, Telesprechstunden und Telemonitoring. Aber auch auf künstlicher Intelligenz basierende Unterstützungssysteme für Diagnose und Therapieentscheidungen werden eine zentrale Stellung in den Praxen und Kliniken einnehmen, um das Gesundheitssystem im Sinne einer verbesserten Patientenversorgung und einer optimierten Ressourcen-Nutzung effizienter zu gestalten. Vor allem an die elektronische Patientenakte werden große Erwartungen geknüpft. Für viele Akteure ist die ePA ein zentraler Pfeiler in der Digitalisierung des Gesundheitswesens, weil sie alle relevanten medizinischen Informationen über einen Menschen – Befunde, Diagnosen, Therapieberichte etc. – digital vereinen soll. Im Idealfall stehen all diese Informationen dann allen behandelnden Ärzten zur Verfügung und bieten so eine effiziente und viel profundere Arbeitsgrundlage. Natürlich gilt hier, dass die Patientendaten in der ePa bestens vor Missbrauch geschützt werden müssen. Der Datenschutz darf allerdings nicht, wie so oft in Deutschland, zum technischen Hemmschuh werden. Wünschenswert wäre deshalb der schnelle Aufbau einer deutschen oder, noch besser europäischen IT- und Telematik-Infrastruktur. Denn hier werden gewaltige Datenmengen (Stichwort Big Data) auflaufen. Die Komplexität des Gesundheitswesens mit seinen vielen Insellösungen erfordert zudem eine Gesamtstrategie mit einer zentralen Organisation für den Digitalisierungsprozess.
Smart Hospital
Big Data, KI und die Bedeutung von Algorithmen können, was die medizinische Versorgung in einer modernen Klinik angeht, kaum hoch genug eingeschätzt werden. Wer die Chancen des medizinischen Fortschritts allen Patientinnen und Patienten zugänglich machen will, und nur das ist wirklich demokratisch, kommt um den Einsatz von KI und Algorithmen nicht herum. Als Beispiel sei hier die Auswertung von Röntgenaufnahmen genannt. Eine gut trainierte KI kann für den erfahrenen Radiologen zu einem ganz wichtigen Assistenten bei der Auswertung und Beurteilung von täglich hunderten radiologischen Bildern werden. Experten gehen davon aus, dass in den kommenden Jahren ein Fünftel der ärztlichen Leistungen im Bereich Diagnose, Überwachung und Prävention durch KI- und Robotik-Systeme ersetzt werden. Das Marktvolumen ist enorm, und es ist daher kein Wunder, dass die großen Tech-Konzerne massiv in diesen Markt drängen. Der deutsche Medtech-Mittelstand muss hier aufpassen, dass er den Anschluss nicht verliert.
Neben der hochpräzisen KI-gestützten Diagnostik wird im Klinik- und Praxisalltag in Zukunft die personalisierte Präzisionsmedizin eine immer wichtigere Rolle spielen. So kann für Krebspatienten schon jetzt mit Hilfe der DNA-Sequenzierung und der anschließenden Durchforstung großer Datenbanken nach vergleichbaren Fällen eine individuelle Therapie entwickelt werden, was z. B. am Uniklinikum Tübingen schon seit geraumer Zeit umgesetzt wird. Das Uniklinikum Essen, ein Vorreiter in Sachen Smart Hospital, setzt mittlerweile in der Uni-Apotheke KI-gestützte Mischroboter ein, die aufgrund der elektronischen Patientenakte exakt dosierte personalisierte Chemotherapien zusammenstellen. Die Pharmazeutinnen und behandelnden Ärzte gewinnen dadurch mehr Zeit, um sich um ihre Patienten zu kümmern.
Augmented und Virtual Reality sind zwei weitere Digitalisierungstrends, die im Smart OP bereits Einzug gehalten haben. Virtual Reality betrifft dabei bisher vor allem die medizinische Ausbildung, zum Beispiel in der Koronarangiographie, wo angehende Kardiologen gewissermaßen im Simulator lernen, wie sie dilatieren und Stents setzen. Augmented Reality wird schon heute im OP eingesetzt, wenn etwa dem Operateur die genaue Lage eines Lymphknotens und die nuklearmedizinischen Befunde über eine entsprechende Brille eingeblendet werden. Das sind extrem spannende Entwicklungen, die alle auf leistungsfähige Algorithmen angewiesen sind. Es ist zu hoffen, dass die neue KI-Verordnung der Europäischen Union Chancen und Risiken vernünftig abwägt und nicht einer innovativen Medtech-Industrie unnötige Hürden aufbürdet. Ein weiteres wichtiges Feld ist die digital-gestützte Optimierung und Standardisierung der Abläufe im und um den Operationssaal herum, inklusive der Schulung der OP-Teams, wie dies zum Beispiel durch das Unternehmen Incision aus den Niederlanden erfolgreich praktiziert wird. Schließlich entstehen rund 40 Prozent der Kosten in der Klinik im OP; Verbesserungen kommen hier sowohl den Patienten zugute als auch der Rentabilität der Kliniken.
Elektronische Reha (eReha) und Nachsorge
Im Rahmen der Patient Journey spielt die Digitalisierung natürlich auch im Bereich der Reha und Nachsorge eine zunehmend wichtige Rolle. Schlaganfallpatienten profitieren zum Beispiel vom Einsatz KI-gestützter Bewegungsroboter, die ihnen helfen, selbstständig wieder laufen zu lernen. Die KI registriert dabei jeden Fortschritt und passt das Trainingsprogramm laufend an. Wurde einem Patienten ein Herzschrittmacher eingesetzt, hat der Kardiologe theoretisch die Möglichkeit, remote auf den Patienten zu schauen und sich so ein Bild vom Zustand seines Patienten zu machen. Vorausgesetzt die Telematik-Infrastruktur ist leistungsfähig genug.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Digitalisierung im Healthcare-Sektor alle Bereiche, von der Vorsorge über Diagnose, Therapie, Reha bis hin zu Wissenschaft und Forschung betrifft. Der Größe der Aufgabe entspricht dem Marktpotential für Digital Health, das Roland Berger in einer aktuellen Studie weltweit mit 979 Milliarden Euro bis 2025 beziffert. Für Deutschland gehen die Experten von einem Marktvolumen von 57 Milliarden Euro, für die EU von 232 Milliarden Euro bis 2025 aus.
Die mittelständisch geprägte deutsche Healthcare-Industrie sollte die Chancen, die die Digitalisierung des Healthcare-Sektors bietet, gezielt nutzen und sich nicht von den großen Tech-Konzernen, die massiv auch in den ersten Gesundheitsmarkt drängen, die Butter vom Brot nehmen lassen. Damit die Unternehmen ihre Innovationskraft voll entfalten können, braucht es aber, neben ausreichend Eigenkapital, vor allem verlässliche Rahmenbedingungen. Diese betreffen zum einen die gesetzlichen Vorgaben, zum anderen aber auch eine ganzheitliche Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen. Im internationalen Vergleich rangiert Deutschland, was die Digitalisierung des Healthcare-Sektors angeht, ganz weit hinten. Angeführt wird die Tabelle des Digital Health Index der Bertelsmann-Stiftung von Estland, Dänemark und Kanada. Da ist noch viel Luft nach oben. Machen wir uns an die Arbeit!
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Hier geht es zu bisher veröffentlichten Beiträgen der Kolumne:
TEIL 1: Medtech im Umbruch – die Aufgaben | erschienen am 5. November 2020
TEIL 2: US-Zulassung und Erstattung im Schnellverfahren | erschienen am 3. Dezember 2020
TEIL 3: Zulassungsverfahren in China | erschienen am 7. Januar 2021
TEIL 4: Die deutsche Healthcare-Industrie und Brexit: not amusing | erschienen am 4. Februar 2021
TEIL 5: Digitalisierung in der Medizintechnik: Megatrend als Megachance | erschienen am 4. März 2021
TEIL 6: "Impact Investing: gute Rendite und Gutes tun!" | erschienen am 1. April 2021
TEIL 7: "Kleines Virus, großes Folgen" | erschienen am 6. Mai 2021