Die MDR-Verschiebung durch Corona hat zwar zunächst Entlastung verschafft, aber die Probleme in die Zukunft verlagert. Experten befürchten den Kollaps des Systems.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der aktuellen medtech zwo Ausgabe 2/2020. Den vollständigen Artikel können Sie hier in unserer digitalen Ausgabe lesen.
Noch im Mai dieses Jahres hatte es wie die große Befreiung geklungen: die Verschiebung des Geltungsbeginns der neuen EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) sollte der Branche angesichts der Corona-Pandemie Luft verschaffen. Am 17. April hatte das Europäische Parlament der Verschiebung des Starts um ein Jahr zugestimmt. Und die Erleichterung war damals groß. Weder hatten sich ausreichend Unternehmen auf die finale Umstellung vorbereitet, noch gab es genügend Benannte Stellen, um den Wechsel von MDD zu MDR zu gewährleisten. „Zum Stichtag 26. Mai 2020 wäre das System nicht genügend auf die Umsetzung der EU-MDR vorbereitet gewesen“, sagt auch Yvonne Glienke, Geschäftsführerin der MedicalMountains GmbH. Und BVMed-Geschäftsführer Marc-Pierre Möll mahnte: „Wir begrüßen den Schritt, aber fordern, dass die EU-Kommission die gewonnene Zeit konsequent nutzt, um das MDR-System endlich bereit zu machen.“
Bugwelle an auslaufenden MDD-Zertifikaten bis 2024 erwartet
Die Forderungen von damals wiederholen sich seitdem immer wieder: Auch jetzt ist man noch weit davon entfernt, als Medizintechnik-Hersteller genügend Benannte Stellen zur Auswahl zu haben . Bis Ende Oktober waren insgesamt 17 in der Nando-Datenbank der EU-Kommission aufgeführt, darunter sechs in Deutschland. Allerdings ist festzuhalten, dass diese 17 Stellen für ca. 80 bis 90% der ausgestellten MDD-Zertifikate verantwortlich sind – hier also bereits eine gewisse Marktabdeckung gegeben ist. Mit bangem Blick schauen Experten nun jedoch nicht auf den nächsten Mai 2021 – ab dann gilt die MDR endgültig – , sondern auf die Jahre 2022 bis 2024. „Wir schieben bis dahin eine riesige Bugwelle an auslaufenden MDD-Zertifikaten vor uns her, die in den Jahren 2023 und 2024 zu massiven Problemen führen wird“, ist sich Klaus-Dieter Ziel sicher. Der Geschäftsführer der MEDCERT GmbH aus Hamburg gehört mit seinem Unternehmen zu den Benannten Stellen, die bereits 2019 offiziell den Benennungsprozess für die MDR geschafft hatten. „Wir haben damals nach unserer offiziellen MDR-Zulassung keinen Run erlebt und weniger als 5% unserer Kunden sind in diesem Jahr mit der MDR auf uns zugekommen“, sagt Ziel. Dies seien insbesondere mittlere und größere Kunden oder Kunden mit höherklassigen Medizinprodukten. „Viele Kunden mit auslaufenden MDD-Zertifikaten in 2020 oder 2021 sind schlecht oder gar nicht vorbereitet“, so Ziel. Stattdessen hat die die Verschiebung der MDR-Frist im Zuge der Corona-Krise die Themen Re-Zertifizierung, vorgezogene Re-Zertifizierung oder Zertifikatsänderungen nochmals angekurbelt. „Wir haben entsprechende Anfragen nur noch bis Ende August angenommen und auch nur von unseren Bestandskunden, da wir es sonst gar nicht mehr bewältigen können“, betont Ziel. „Schon vor diesem MDD-Re-Zertifizierungs- und Zertifikatsänderungsschub hatten wir eine große Anzahl an auslaufenden MDD-Zertifikaten für 2023/2024 im Kalender. Wir verlagern unser Problem also nur in die Zukunft“, sagt Ziel.
Remote-Audits haben Limits
Hinzukommen die Schwierigkeiten im Zuge der Pandemie, überhaupt Prüfungen und Audits vornehmen zu können. „Es hat eine Weile gebraucht, bis wir Standards für Remote-Audits erarbeitet hatten und klar war, was online gemacht werden kann und was nicht“, erläutert Ziel. Die Mitarbeiter mussten selbst einen Lernprozess vollziehen, gleichzeitig hat die Online-Arbeit auch ihre Grenzen. „Bei Bestandskunden lassen sich Remote-Audits deutlich einfacher durchführen, weil wir den Kunden bereits gut kennen. Erst-Audits und z.B. die Auditierung der Herstell- oder Prüfprozesse sind auf diesem Weg nicht oder nicht vollständig möglich. Auch unangekündigte Audits gehen natürlich nicht“, macht Ziel auf die Limits der Remote-Tätigkeit aufmerksam. Das Problem jedoch liegt in der Zukunft: Aufgrund der Remote-Audits im ersten Lockdown wurde bereits ein Stau an nicht-abgeschlossenen Audits aufgebaut, der über den Sommer noch nicht vollständig reduziert werden konnte. „Wir arbeiten von Hamburg aus mit Kunden in über 20 Ländern. Durch die Einschränkung der Reisetätigkeit konnten wir vielerorts den Faden der Vor-Ort-Audits noch gar nicht wieder aufnehmen“, berichtet Ziel. Er sieht daher schon jetzt erhebliche Engpässe für die lange im Voraus geplanten Audits im Jahr 2021 auf ihn und seine Mitarbeiter zukommen. Ob und wie mit Corona-bedingten Verschiebungen im Detail umgegangen werden soll, ist aber auch nicht geklärt „Was passiert, wenn ein Audit 2020 wegen Corona nicht abgeschlossen wurde, man 2021 aber auch schon wieder das nächste Audit durchführen müsste?“
Fragen wie diese stellen alle Experten der Branche aktuell vor ungelöste Probleme. Und sie verschärfen das Engpass-Problem in 2021 nochmal zusätzlich, da so absehbar notwendige Zeit- und Personalressourcen für Neukunden nicht zur Verfügung stehen.
Branche fordert Duldung für Produkte in „Zertifizierungs-Warteschleife“
Vor diesem Hintergrund machen sich Branchenverbände und Cluster für eine ganze Reihe von Forderungen stark. Ganz oben auf der Prioritätenliste steht eine ausreichende Anzahl an MDR-notifizierten Benannten Stellen sowie der Wunsch nach einem vereinfachten Vorgehen bei Neuzertifizierungen von bewährten Bestandsprodukten. Letzterer Aspekt wurde beispielsweise in der Herbstumfrage des BVMed von 56% der befragten Medtech-Unternehmen genannt. In diesem Zusammenhang fordern Branchenvertreter zudem Übergangsregelungen für Unternehmen, die noch keine Benannte Stelle haben, sowie eine Duldung für Produkte, die in der „Zertifizierungs-Warteschleife“ hängen. „Das System benötigt eine Art Benannte-Stelle-Garantie für Unternehmen, Fristverbindlichkeit, geregelte Verwaltungsverfahren und eine transparente Kostenstruktur“, heißt es zum Beispiel in einem Positionspapier des Clusters MedicalMountains vom August 2020. „Diese Forderungen haben auch jetzt im Herbst nicht an Bedeutung verloren, obwohl sie in der Pandemiediskussion etwas aus dem politischen Blickwinkel gerückt sind“, sagt Geschäftsführerin Yvonne Glienke.
In Bezug auf konkrete Umsetzungsvorgaben der EU-MDR fehlen noch immer Rechtsakte und Guidances. Ebenso sollen die Expertengremien, die bei der Zertifizierung von implantierbaren Produkten der Klasse III sowie von bestimmten aktiven Produkten der Klasse IIb als Peer Review einbezogen werden, erst im ersten Quartal 2021 besetzt werden. Lediglich hinsichtlich des Zeitplans für die Datenbank EUDAMED wurden Fortschritte gemacht. Inzwischen hat die EU-Kommission eine Webseite freigeschaltet, auf der nach und nach alle Module nutzbar sind. Ab Dezember ist beispielsweise die Registrierung möglich.
Weiterlesen? Das erfahren Sie in unserem Heft:
- wie die Benannten Stellen die Vorbereitung der Unternehmen auf die Umstellung von MDD zu MDR einschätzen und warum selbst große Firmen Probleme haben
- warum Regulationsexperten wie Bassil Akra, früher beim TÜV, nun Geschäftsführer der deutschen QUNIQUE GmbH, einen Kollaps des System befürchten
- warum vor allem der Engpass beim Personal eine Herausforderung ist.