Welchen Einfluss hat die aktuelle Krise auf die Gesundheitsversorgung und den Trend der Digitalisierung? Ein Kommentar von Jared Sebhatu, Leiter der digital health transformation eG.
Jared Sebhatu leitet die neu gegründete digital health transformation eG, Berlin. Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Krankenhäusern und Krankenhausgruppen, die die Herausforderung der Digitalisierung des Gesundheitswesens gemeinsam meistern wollen. Durch Stationen bei einer Vielzahl internationaler Unternehmen in der Gesundheitswirtschaft baute er eine umfassende Expertise zum Innovationsprozess und zur Geschäftsmodellentwicklung in der digitalen Gesundheitsversorgung auf. Mit diesem Wissen berät er eine Vielzahl kleiner und großer Gesundheitsunternehmen in den Bereichen Strategie, Technologie und Innovationsmanagement.
Auch wenn wir noch am Anfang der Pandemie stehen, ist bereits jetzt zu sehen, dass sich die vorhandenen Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems im internationalen Vergleich als wichtiger Vorteil erweisen. Im Gegensatz zu vermeintlich effizienteren ausländischen Gesundheitssystemen (Übersicht zu Kapazitäten hier: mehr Infos), die in der aktuellen Extremsituation an ihre Grenzen stoßen, war es in Deutschland möglich, die verfügbare Infrastruktur schnell und umfassend zu erweitern, so dass die medizinische Situation derzeitig grundsätzlich kontrollierbar erscheint. Diese gefühlte Stärke unseres Systems beeinflusst natürlich auch die interne Veränderungsbereitschaft und den externen Veränderungsdruck.
Doch was bedeutet diese Situation für den Trend der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft? Unternehmen stellen ihre digitalen Innovationen kostenlos zur Verfügung, telemedizinische Produkte schaffen es in die Breite und mobile Applikationen werden sogar von der Regierung auf den Markt gebracht. Viel wird aktuell über einen potentiellen Corona-bedingten Boom für die Digitalisierung des Gesundheitssystems diskutiert. Aber kann man die langfristigen Auswirkungen bereits absehen?
DER DURCHBRUCH DER TELEMEDIZIN
Den größten langfristigen Effekt wird sicherlich die Telemedizin erfahren. Eine Vermeidung von Ansteckungsgefahren war zwar bereits schon vor der Krise ein wichtiges Argument der Anbieter. Dieser Mehrwert ist nun jedoch für Jedermann offensichtlich. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass vor allem durch den zunehmenden Ärztemangel in ländlichen Regionen die Etablierung telemedizinscher Leistungen auch schon in den vergangenen Jahren unvermeidbar erschien. Dies wird durch den bemerkenswerten Erfolg von Doctolib in Europa und den großen Telemedizinanbietern in den USA bestätigt. In jedem Fall wird diese Entwicklung durch die aktuelle Situation drastisch verstärkt. Die entscheidende Frage wird sein, wie schnell unser Gesundheitssystem reagiert und die Vergütungssätze so attraktiv gestaltet, dass für die Versorger auch finanzielle Anreize zur Einführung geschaffen werden.
Die flächendeckende Verfügbarkeit telemedizinischer Versorgung ist ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitssystems. Spannend wird die Betrachtung von weiteren Bereichen der Digitalisierung, die bisher den value inflection point noch nicht erreicht haben.
DIGITALE THERPIEN – NACHHALTIG IN DIE REGELVERSORGUNG?
Die digitale Betreuung von chronischen Krankheiten verspricht schon länger einen elementaren Mehrwert für die Qualität und die Effizienz des Gesundheitswesens. Trotz bereits vorhandener interessanter Anwendungen ist ein Durchbruch dieser innovativen Versorgungsformen jedoch noch immer nicht erfolgt, so dass nach wie vor keine einzige digitale Therapie den Weg in die Regelversorgung gefunden hat. Die Ursachen hierfür sind vor allem der komplexe Innovationsprozess mit hohen Hürden bezüglich medizintechnischer und datenschutzrelevanter Anforderungen und im besonderen Maße die Entwicklung attraktiver Geschäftsmodelle. Letzteres ist damit zu begründen, dass der theoretische Mehrwert dieser Anwendungen in den meisten Fällen noch nicht ausreichend nachgewiesen ist, so dass sich das Gesundheitssystem mit der Vergütung bisher sehr zurückgehalten hat. Seit Jahren wurde mühsam versucht diesen Teufelskreis zu durchbrechen – mit überschaubarem Erfolg. Doch nun hat das Gesundheitsministerium (BMG) mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) einen erfolgversprechenden Anlauf genommen, die systemischen Barrieren für digitale Innovationen zu reduzieren.
Dass das Inkrafttreten des DVGs genau in die Zeit der aktuellen Pandemie fällt, führt zu einer bemerkenswerten kurzfristigen Dynamik, wie beispielsweise die über 1.200 kurzfristigen Anmeldungen an dem virtuellen DiGa-Summit des health innovation hubs des BMGs zeigen. Nichtsdestotrotz wird die erfolgreiche Übernahme digitaler Therapien in die Regelversorgung nicht von der aktuellen Diskussion, sondern von ihrem mittelfristigen Mehrwert in der klinischen Realität abhängen. Nach wie vor brauchen wir also Pioniere, die den (nicht mehr ganz so) steinigen Weg ins Gesundheitssystem erfolgreich beschreiten und diesen somit langfristig für ihre Nachfolger ebnen (siehe Artikel: https://healthcare-startups.de/der-deutsche-digitale-gesundheitsmarkt-hart-aber-fair/)
DAS DIGITALE KRANKENHAUS: SCHRITTWEISE ZUM ZIEL
Das größte Hindernis für die Digitalisierung der stationären Versorgung ist der Innovationsstau der Krankenhäuser. Der stetig zunehmende Kostendruck auf die Versorger beeinflusst ihre Investitionsbereitschaft. Dies führt unausweichlich zu einem im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Digitalisierungsgrad deutscher Krankenhäuser (siehe Analyse hier). Hier sind sowohl die Anbieter digitaler Anwendungen gefragt, ihren finanziellen und/oder medizinischen Nutzen überzeugend darzustellen und auch die Versorger, Digitalisierungsprojekte strategisch zu priorisieren und die begrenzt vorhandenen Ressourcen sinnvoll zu nutzen. Auch in der stationären Versorgung können neue Gesetze zur Digitalisierung beitragen. Es bleibt jedoch abzuwarten, welche gesetzlichen Veränderungen für deutsche Krankenhäuser aus der derzeitigen Krise entstehen werden. Neben der Telemedizin könnte dies perspektivisch den Durchbruch für weitere interessante digitale Innovationen ermöglichen: Hygiene-Management, Qualitätsmessung durch Patient Reported Outcome oder datenbasierte Kapazitätsplanung, um nur einige zu nennen.
Zusammenfassend bleibt wohl festzuhalten, dass es wahrscheinlich noch zu früh ist, die tatsächlichen Auswirkungen der Krise auf die Digitalisierung des Gesundheitssystems zu bestimmen. Die Politik hat mit dem Wegfall des Fernbehandlungsverbots und dem Digitale-Versorgungs-Gesetz bereits im vergangenen Jahr die Weichen gestellt. Weitere gesetzliche Änderungen werden sehr wahrscheinlich von dem Ausmaß der weiteren Entwicklung der Pandemie abhängen. Wichtig wird aber sein, dass die Anbieter digitaler Innovationen, die sich jetzt auftuenden Chancen nutzen, um den Mehrwert der Digitalisierung für das Gesundheitssystem bestmöglich nachzuweisen, damit aus dem kurzfristigen Boom eine nachhaltige Weiterentwicklung entsteht.