Der Medtech-Cluster MedicalMountains macht Druck auf die Politik: In zwei Positionspapieren wird die Bereitstellung eines funktionierendes EU-MDR-Systems gefordert.
Die Medizintechnik-Branche braucht neue und verbesserte Strukturen – das ist die zentrale Forderung zweier Positionspapiere (hier der Download), die die MedicalMountains GmbH und die Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald-Baar-Heuberg an die Politik und insbesondere an die gesetzgebenden EU-Institutionen richten. Neben Vorschlägen zu einer Ausweitung von elektronischen Gebrauchsanweisungen wird ein funktionierenden MDR-System bis Ende Mai kommenden Jahres gefordert.
Wesentliche MDR-Bausteine fehlen noch
Als im April verkündet wurde, dass der Geltungsbeginn der Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte, kurz EU-MDR um ein Jahr verschoben wird, war die Erleichterung spürbar. Zum einen, weil Medizintechnik-Unternehmen sich dadurch ganz der akuten Corona-Krise widmen konnten. Zum anderen fehlten noch wesentliche MDR-Bausteine, ohne die kein reibungsloser Start gelingt – nun mehren sich die Befürchtungen, dass sich diese Situation 2021 wiederholen wird.
„Zum Stichtag 26. Mai 2020 wäre das System nicht genügend auf die Umsetzung der EU-MDR vorbereitet gewesen“, erinnern Thomas Albiez, Hauptgeschäftsführer der IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg, und Julia Steckeler, Geschäftsführerin der MedicalMountains GmbH. „Diese Probleme bestehen leider weiterhin, werden durch die Folgen der Pandemie noch verschärft und allein durch einen neuen Geltungsbeginn nicht gelöst.“
Übergangsregelungen für Zertifizierungs-Warteschleife fehlen
Ganz oben auf der Prioritätenliste steht eine ausreichende Anzahl an MDR-notifizierten Benannten Stellen. Damit verbunden sind die Forderungen nach Übergangsregelungen für Unternehmen, die noch keine Benannte Stelle haben, sowie eine Duldung für Produkte, die in der „Zertifizierungs-Warteschleife“ hängen. Das System benötige eine Art Benannte-Stelle-Garantie für Unternehmen, Fristverbindlichkeit, geregelte Verwaltungsverfahren und eine transparente Kostenstruktur. In Bezug auf konkrete Umsetzungsvorgaben der EU-MDR fehlen noch immer Rechtsakte und Guidances. Ebenso sind Expertengremien unbesetzt, die bei der Zertifizierung von implantierbaren Produkten der Klasse III sowie von bestimmten aktiven Produkten der Klasse IIb einbezogen werden. Angemahnt wird auch ein finaler Zeitplan für die Datenbank EUDAMED. Nationale Alleingänge für Übergangs-Systeme müssten unbedingt vermieden werden: „Hier ist eine EU-weite Lösung zu schaffen.“
Klärung zu Anforderungen an Gebrauchsanweisungen
Mit der EU-MDR wachsen auch die Anforderungen an Gebrauchsanweisungen. Ob sie elektronisch vorliegen dürfen, darüber macht die EU-MDR jedoch keine Aussage. Diese Vorgaben sind in der Verordnung (EU) 207/2012 geregelt. „Fakt ist: Eine elektronische Gebrauchsanweisung (eIFU) verbessert die Anwender- und Patientensicherheit deutlich, beschränkt sich aber nur auf wenige Medizinprodukte“, betonen Thomas Albiez und Julia Steckeler. Sie unterstützen daher den Vorstoß, den Geltungsbereich zu erweitern und beispielsweise auch wiederverwendbare chirurgische Instrumente der Risikoklasse Ir, die ausschließlich für die Verwendung durch Fachleute vorgesehen sind, zu berücksichtigen. So könnten Nutzern die aktuellsten Informationen in ihrer bevorzugten Sprache zur Verfügung gestellt werden. Zudem bestehe die Möglichkeit, Video- und Audiodateien mit Bedienungs- und Handhabungsanweisungen einzubinden. „Für die sinnvolle Umsetzung der EU-MDR muss die Verordnung (EU) 207/2012 daher dringend modernisiert werden.“ Die Argumente dafür sind ebenfalls in einem Positionspapier zusammengefasst worden.
Befürchtung: 2024 zeichnet sich nächster Engpass ab
MedicalMountains GmbH und IHK Schwarzwald-Baar-Heuberg sehen insbesondere bei der EU-MDR einen hohen Zeitdruck. Nicht allein mit Blick auf 2021. Der Geltungsbeginn sei zwar verschoben worden, nicht aber die rückwärtigen Fristen. „Es bleibt daher zu befürchten, dass sich 2024 der nächste Engpass abzeichnet“, wenn nicht jetzt die Weichen richtig gestellt werden, so Thomas Albiez und Julia Steckeler.
Clustervertreter im Dialog mit Landespolitik
Erst kürzlich hatten die Clustervertreter sich mit Landespolitikern getroffen, um den Ist- und Soll-Zustand der Medizintechnikbranche in Tuttlingen rund um EU-MDR, Digitalisierung und Corona zu erörtern. Guido Wolf, Minister des Landes Baden-Württemberg der Justiz und für Europa hat gemeinsam mit Katrin Schütz, Staatssekretärin vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau, die Initiative ergriffen in einer großen Runde zusammen mit Geschäftsführern, Vorständen und Bereichsleitern der Medizintechnikbranche einen intensiven Dialog bei der MedicalMountains GmbH am Tuttlinger Innovations- und Forschungs-Centrum zuführen. Der Fokus der Agenda lag auch hier auf der EU-MDR, aber auch über die Corona-Krise und die Digitalisierung wurde gesprochen.
Europaweites Stufenmodell als neue Möglichkeit?
Während des Dialogs wurde anstelle einer erneuten Verschiebung des MDR-Geltungsbeginns auch die Möglichkeit eines europaweiten „Stufenmodells“ ins Gespräch gebracht: die EU-MDR-Anforderungen sollten so schrittweise in Abhängigkeit der externen Kapazitäten von Prüforganisationen, Guidances oder Expertengremien umgesetzt werden. Parallel dazu müssen Unternehmen erforderliche Kompetenzen und Prozesse etablieren.
In einem Punkt waren sich alle einig, der Mittelstand und das lokale Netzwerk dürfen nicht wegen einer Hürde der EU-MDR zusammenbrechen und auch kleine und kleinste Medizintechnik-Unternehmen müssen eine realistische Chance haben. Der internationale Markt ist momentan mit vergleichsweise unkomplizierten Zulassungs- und Vergütungsverfahren in den USA für viele Unternehmen unabhängig von der Firmengröße attraktiver. Innovative Medizinprodukte kämen oft eher in den USA in die Kliniken und stünden im schlimmsten Fall den Patienten in Europa gar nicht zur Verfügung.
Innovationsdrang trotz Corona
„Innovationen und Fortschritt in der Gesundheitsversorgung entsteht nur im funktionierenden Ganzen: durch gute Ideen, gute Unternehmen, gute Rahmenbedingungen, gut aufgestellte Kliniken, gebündelt mit einem guten Netzwerk“, so Julia Steckeler. Obwohl die globale Corona-Pandemie die Medizintechnik-Branche eingetrübt hat, herrsche dennoch ein Innovationsdrang. „Die Unternehmen brennen dafür, neue Projekte umzusetzen, innovativ zu arbeiten und innovativ zu entwickeln“, so Steckeler. Der Blick geht nach vorn und gleichzeitig hat die Krise der Digitalisierung in den Unternehmen einen – wenn auch nicht ganz freiwilligen - Push gegeben. Die neu geschaffenen Strukturen sollen erhalten bleiben und ein Zurück in die „alte Welt“ darf es nicht geben, so der allgemeine Tenor während der Diskussion.